Weiter hieß es: „Da wird weiterhin der Autodidakt Aicher als renommierter Grafiker bezeichnet, während es bei dem ebenfalls abschlusslosen Maler, Architekten, Grafiker etc. Max Bill trotz großer Erfolge wie auf der Biennale in São Paulo 1951 zu nicht mehr als zur Kennzeichnung ‚Bauhaus-Schüler‘ ohne Berufsabschluss reicht. Da wollen die Ulmer etwas ‚Eigenes‘ haben, als wäre es um esoterische Selbstfindung oder Loriots Jodeldiplom gegangen. Da wird außerdem behauptet, erstmals werde die Geschichte aus der Sicht der Beteiligten der ‚Ausbildungsstätte für Industriedesign‘ – von visueller Kommunikation, Film, Information und industriellem Bauen ist bezeichnenderweise nicht die Rede – erzählt, als gäbe es nicht Buch und Webseite zu den Frauen in Ulm oder die Publikationen des Club Off Ulm, darunter eine, in der Ex-Ulmer berichten, die nie über die Grundlehre hinauskamen. Und was bitte soll mit Phrasen wie ‚In der vernünftigen und guten Gestaltung der Umwelt sahen sie ein Mittel, die Ideale der Moderne zu verwirklichen‘ gemeint sein, war doch die ‚Gute Form‘ spätestens nach Bills Weggang in Ulm obsolet? So wäre das Ganze zwar ärgerlich, wenn es einer der neuerdings so beliebten halbwissensgesättigten Dissertationen zur Designtheorie entstammte, doch ist die Verfasserin des Bandes langjährige Mitarbeiterin und ehemalige Leiterin des HfG-Archiv Ulm, der Band selbst Begleitbuch einer dortigen Ausstellung.“ Soweit so geschrieben, und man könnte es dabei bewenden lassen, wäre das Buch nicht noch viel ärgerlicher. Denn die Lektüre zeigt, dass hier nicht nur nicht informiert, sondern denunziert wird. Da hat der Typograf Anthony Froshaug „verschiedene Kinder von verschiedenen Frauen“ und „in seiner Begleitung befand sich die minderjährige Tochter eines Ulmer Taxifahrers“, die Kolportage ersetzt die Information.
Demgegenüber scheint der Band „Einfach komplex“ über Max Bills Bauten für die HfG Ulm von ganz anderem Gewicht. Umfassend werden diese von den unterschiedlichen Bodenbelägen und -farben bis zu den Deckenkonstruktionen dokumentiert – das Buch wird so zum Ersatz für Vieles, das durch unangemessenen Umbau zerstört und verloren ist. Das könnte hier jetzt an Beispielen gezeigt und gepriesen werden, wenn sich der einer geradezu obsessiven Begeisterung für die Bauten und ihre Details zu verdankende Band darauf beschränken würde. Aber das Autorenpaar möchte mehr, es benutzt die Bauten, um Max Bill in Ulm zu rehabilitieren und zu ehren – als wäre dies nötig. Dabei bleibt, wie bei Wachsmann, unberücksichtigt, was das Bild stört. So ist keine Rede davon, dass es nach der von Eugen Gomringer überlieferten Absage Binia Bills, nach Ulm zu ziehen, keinen Grund mehr für ein Haus des Rektors gab, da Bill nicht von Zürich nach Ulm ziehen würde, und lieber wird die unbewiesene, der Architektur sowie allen seinerzeitigen Gepflogenheiten bis hin zum Kuppelparagrafen widersprechende Behauptung, in den Ateliers habe es, wenn auch schmale Doppelbetten gegeben, zitiert. Unangenehm wird die Auswahl der Gewährsstellen schließlich, wenn es um die Autorenschaft des Ulmer Hockers geht. Denn die Autoren kennen die Quellenlage, zitieren aber mythenschaffend. So wird aus dem Interview mit Paul Hildinger in Design und Design die Bemerkung, Hans Gugelot sei nicht an dem Entwurf beteiligt gewesen, unterschlagen, und die Beschreibung des ursprünglichen Bill-Entwurfs, der bislang nicht gefunden wurde, hätte zu einem sehr anderen Produkt geführt. Und die Genealogie des Hocker-Entwurfs stellt eine zum Teil abstruse Erweiterung eines Beitrages des Rezensenten in form 257 (S. 80) dar, freilich ohne diesen zu nennen.
Ein weiteres Problem sind Grafik und Umfang des Bandes. Zur Überprüfung der Aussagen vor Ort eignet er sich aufgrund seines Gewichtes nicht. Der schematische, oft dem Blocksatz angenäherte Flattersatz und die zu dunklen, gelegentlich gestreckten Fotos entsprechen der Bedeutung des Gegenstandes nicht, oft wirken die Gebäude auf den gedruckten Fotos, als hätten sie die Krätze. Zum Ende lassen Kritik und Polemik am Ist-Zustand der HfG die Frage aufkommen, ob hier wie an anderen Orten nicht Kränkung die Sicht auf das Mögliche trübt, zumal den Ideen der HfG durch Musealisierung nicht geholfen ist.
So etwas verdirbt einem die Freude an den vielen Entdeckungen, die in dem Buch zu machen sind, etwa, dass die berühmte Luftaufnahme Otl Aichers, die die HfG vor der Stadt im Nebel zeigt, schon in den ersten Entwurfsperspektiven der Schule von Bill ihre Vorläufer hat. Oder man kann Aichers hier erstmals veröffentlichten Entwurf der Schule als Glasaufsatz auf einer der Bastionen der Festung Kuhberg mit dem Blick auf Norman Fosters Reichstagskuppel hinterfragen. Letztlich steht man etwas ratlos vor beiden Bänden, fragt sich, warum 50 Jahre nach Ende der HfG die Gegensätze zwischen Aicher, Bill und Maldonado noch immer die HfG-Rezeption bestimmen. Denn man kann Bills Lebensleistung bewundern und seine Egomanie kritisieren, man kann fragen, warum Maldonado vom Bill-Adepten zum -Gegner wurde, man kann in Aichers Bestreben, das Richtige zu machen, auch tragische Elemente finden, man kann also abwägen, ohne Radikalität aufzugeben oder Objektivität mit Beliebigkeit zu verwechseln. Man kann, aber man muss es auch wollen.
Christiane Wachsmann
Vom Bauhaus beflügelt
Menschen und Ideen an der Hochschule für Gestaltung Ulm
Av Edition, Stuttgart (DE)
Deutsch
256 Seiten, € 29
ISBN 978-3-89986-286-7
Daniel P. Meister, Dagmar Meister-Klaiber
Einfach komplex
Max Bill und die Architektur der HfG Ulm
Verlag Scheidegger und Spiess, Zurich (CH)
Deutsch
650 Seiten, € 140
ISBN 978-3-85881-613-9