INTERVIEW MIT NADINE GÖPFERT UND LUCAS GUTIERREZ

INTERVIEW MIT NADINE GÖPFERT UND LUCAS GUTIERREZ

Ein Tag in Berlin: Der Himmel in monochromes Grau getaucht, auf der Straße geschäftiges Treiben. Die Vorbereitungen für das Berliner Gallery Weekend liegen bereits in der Luft, an dem sich die ehemals zwielichtige Gegend rund um die Potsdamer Straße in kosmopolitischer Weltoffenheit präsentieren wird. Wir treffen Nadine Göpfert und Lucas Gutierrez in Göpferts Studio, das abseits der Hauptverkehrsstraße in einem freistehenden, loftartigen Gebäude zu finden ist. Am Klingelschild wird klar, dass man im Epizentrum der Berliner Kreativszene angekommen ist: Neben dem Eigentümer des Gebäudes, dem Künstler Thomas Demand, finden sich Namen wie Konstantin Grcic, Kasper König und das von Göpferts Lebensgefährte Till Wiedeck betriebene Studio HelloMe.

Liebe Nadine, lieber Lucas, beginnen wir mit einer einfachen Frage. Was sind Oberflächen?

NADINE GÖPFERT Als ich mich entschieden habe, Textil- und Oberflächendesign zu studieren, klang das Thema einfach toll. Oberflächen findet man überall und ich war grundsätzlich sehr an Textilien interessiert. Ich mag die Freiheiten, die einem das Wort Oberfläche gibt. Wenn ich das Wort Oberfläche definieren muss, denke ich sofort an etwas Taktiles, etwas, das ich anfassen kann. Darüber hinaus denke ich an etwas, das einen visuellen Effekt auf mich hat. Mich persönlich interessieren vor allem Strukturen und die haptischen Eigenschaften von Oberflächen. So wird die Oberfläche für mich auch zu einem Raum der Reflexion.

LUCAS GUTIERREZ Ich fühle mich deiner Definition von Oberfläche sehr verbunden. Manchmal sehen Oberflächen aus wie das Resultat eines Reflexionsprozesses. Als Gestalter oder Künstler hat man ja die Wahl. Man kann einer Oberfläche Eigenschaften auf verschiedenen Ebenen zuweisen, unabhängig vom Medium. Die Interpretation dieser Wahl verbleibt bei der Person, die die Oberfläche betrachtet oder berührt. Letztlich setzt man etwas in die Welt, aber die Interpretation erfolgt erst danach.



NG Ganz genau. Wenn es um meine Arbeiten geht, illustriert die Oberfläche meine Gedanken. Diese wird dann wiederum interpretiert.

In der deutschen Sprache hat der Begriff der Oberfläche tendenziell eine negative Konnotation, da er mit dem Begriff der Oberflächlichkeit verknüpft ist. Die Digitalisierung verstärkt diese Tendenz unter Umständen noch. Wenn ich Euch richtig verstanden habe, haben Oberflächen immer mehrere Ebenen und emanzipieren sich so vom Verdacht der Oberflächlichkeit?

NG Definitiv. Ich muss sofort an die Arbeiten von Lucio Fontana denken. Es gibt zwar die Oberfläche, aber es gibt immer etwas, das darunterliegt.

Der Prozess gehört also untrennbar zur Oberfläche. Das könnte besonders relevant sein, wenn man digitale Oberflächen betrachtet. Es ist so einfach geworden, Oberflächen zu erschaffen, die fantastisch aussehen.

LG Wir befinden uns in einer überwältigend visuellen Periode der Menschheit. Ich habe daher das Gefühl, dass wir uns darin trainieren müssen, die Tiefe einer digitalen Oberfläche besser zu begreifen. Im Textildesign gibt es einen Körperbezug. Den gibt es im digitalen Raum nicht unbedingt, er wird verdeckt. Wir betrachten nur eine hauchdünne Linie, die es schwer macht, den ganzen Prozess dahinter wahrzunehmen.

NG Das stimmt. Eine digitale Oberfläche ist etwas sehr anderes als eine textile. Entscheidend sind für mich die wahrnehmbaren Ebenen. Wenn man ein gewobenes Textil betrachtet, kann man die Fäden sehen. Man kann sie sogar spüren. Wenn man eine digitale Oberfläche betrachtet, kann man nur eine einzige Ebene wahrnehmen.

Also gehört für dich das Sehen und das Erfühlen des Herstellungsprozesses zum Verständnis einer Oberfläche?

NG Ganz genau. Wenn ich an eine digitale Oberfläche denke, fällt es mir schwer, den Prozess wahrzunehmen. Ich habe allerdings auch keine Ahnung davon.


LG Ich denke, es kommt auf den Output und das Medium an, mit dem man arbeitet. Manchmal ist der Bildschirm eine verbindende Oberfläche. Wenn ich meinen Laptop aufklappe, kann ich entweder einfach arbeiten und fühle dabei wenig, oder ich nutze denselben Bildschirm, um mit meinen Liebsten in Kontakt zu treten und fühle mich verbunden und nah. Ich denke, dass Bildschirme die wichtigsten Objekte dieser Ära sind.

NG Der Bildschirm ist also ein Kommunikationsmittel. Die Frage ist, kann eine analoge Oberfläche auch ein Kommunikationsmittel sein? Das ist übrigens auch das Thema meines nächsten Kurses in Weimar. Der Kurs heißt Social Fabric und die Studierenden werden aufgefordert, ein Textil zu entwerfen, welches die zwischenmenschliche Kommunikation verstärkt. Heutzutage sind wir ununterbrochen am Telefon und kommunizieren in digitalen Räumen, daher fand ich die Frage nach einem stofflichen Medium sehr interessant.

LG Wenn man diese Verbindung auf die Spitze treiben möchte, könnte man sagen, dass wir immer Objekte als Verlängerung unserer Selbst nutzen und durch diese kommunizieren. Wir haben zwar vergessen, dass wir diese Objektentscheidungen treffen, aber sie sind allgegenwärtig.


NG Wir sind uns einig, dass jedes Textil, jede Oberfläche und alle digitalen Oberflächen Projektions- und Reflexionsfläche sein können und so konstant Informationen senden.

Informationen, die über eine Oberflächlichkeit hinausgehen?

BEIDE Ja.

Was glaubt Ihr, wie lange es wohl noch dauert, bis wir im digitalen Raum etwas anfassen und haptisch fühlen können?

NG Meine Freundin Veronika Aumann, mit der ich auch studiert habe, forscht schon seit einigen Jahren an intelligenten Textilien. Sie möchte Textilien entwickeln, die sich zum Beispiel wie Kaschmir anfühlen, aber digitale Charakteristiken haben. Ich stelle mir vor, dass man dann von Tag zu Tag entscheiden kann, welche Farbe oder Haptik die Hose haben soll, die man trägt. Man kann sie beispielweise durch Programmieren verändern.

Man bräuchte im Grunde nur einen Link ins Gehirn, der einem zum Beispiel die Information „Deine Hose fühlt sich weich an“ sendet. Dann müsste sich die Hose in der Realität gar nicht verändern.

NG Genau, oder du hast eine App, mit der du die Eigenschaften deiner Hose steuern kannst.

LG Ich denke, diese Art der Verbindung wird auf jeden Fall einer der nächsten Schritte sein. Im Grunde ist XR (Cross Reality), also das Verschmelzen der physischen und digitalen Realität, die Grundlage für VR (Virtual Reality), AR (Augmented Reality) und alles, was augmented ist. Momentan beschränken sich diese Technologien noch sehr auf spezielle Bereiche, zum Beispiel das experimentelle Gaming. Aber tendenziell verschieben sich viele Vorgänge, wie wir aussehen, was wir anziehen, wie wir konsumieren, immer mehr in den digitalen Raum, der allerdings noch nicht greifbar ist. Das Gleiche haben wir beim Duft: Diesen Sinn digital einzubinden ist immer noch extrem schwer.


NG Wie würde das dann konkret aussehen? Wenn ich Klamotten im Internet kaufen möchte, dann kann ich sie nicht nur sehen, sondern auch anfassen?

LG Zum Beispiel.

Im Grunde reden wir immer über Informationen, codierte Informationen. Wenn zum Beispiel eine kabellose Verbindung zwischen Gehirn und Internet bestünde, und man eine Klamotte auswählte, könnte man direkt die Information „Kaschmir, blau“ in die zuständige Gehirnregion gesendet bekommen. Dann würde man es ohne physischen Kontakt fühlen.

NG Ist das nicht beängstigend?

LG Ich denke, vergleichbare Dinge passieren schon. Was ich meine, ist das digitale Besitzen. Ich finde diesen Moment faszinierend, wenn man das Gefühl hat, dass einem etwas Digitales gehört, sei es ein Bild oder ein Vorgang oder Social Media-Engagement. Im Grunde archiviert man nur jede Form jeglicher Information, aber man hat dennoch eine Dopaminausschüttung durch das Gefühl des Besitzens. Auch wenn diese Dinge nicht existieren, werden sie durch kollektives digitales Handeln real. Der Wert steigt, da sich alle digital darstellen. Im Grunde zwingt einen niemand, das alles zu erleben und zu teilen, aber das Teilen ist manchmal der einzige Weg, um sich verbunden zu fühlen.

Lasst uns nochmal einen Schritt zurück machen. Wenn man erst mal in den Gefilden der Digitalisierung ist, kommt man dort schwer wieder heraus. Deswegen würde ich gerne wissen, wie Ihr arbeitet. Wie generiert Ihr Ideen für Oberflächen?

NG Für meine freien Projekte starte ich immer mit Beobachtungen. Ich beobachte das alltägliche Leben, Prozesse und Abläufe in der Gesellschaft. Der nächste Schritt ist das Arbeiten mit Materialien, die diese Beobachtung reflektieren. Ich arbeite gerne mit Materialien, die ich zufällig finde oder die nicht notwendigerweise zum Tragen gedacht sind. Ich mag die Idee, Materialien zu transformieren. Meistens beinhaltet der Prozess auch viele Experimente. In meinem letzten Projekt ging es zum Beispiel um das Verhältnis von Körper und Kleidung. Seit einiger Zeit beobachte ich, dass wir versuchen, unseren Körper der Kleidung anzupassen und nicht andersherum. Das wollte ich ändern und habe daher eine Kollektion von standardisierten Teilen entwickelt, deren Systematik nicht auf dem Körper, sondern der Materialität beziehungsweise dem Material beruht. Innerhalb der Kollektion gibt es alle Kleidungsstücke in eng und weit. Jedes dieser Stücke besteht aber aus der gleichen Menge Stoff. So hat jedes Stück den gleichen Wert. Man kann selbst entscheiden, welche Passform einem mehr zusagt.

Liebe Nadine, kommen wir zu deiner Lieblingsfrage. Wie cool war es, dass Solange deinen Sweater in ihrem Video „Cranes in the Sky“ getragen hat?

Die Arbeiten von NADINE GÖPFERT muten poetisch an, spielen mit Erwartungen und setzen sich auf verschiedenen Ebenen mit der Beziehung von Kleidung, Mensch und Gesellschaft auseinander. Göpfert studierte Textil- und Oberflächendesign an der Weißensee Kunsthochschule Berlin und an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin, wo sie Aufträge von zum Teil namhaften Kunden wie Nike oder der Modemesse Première Vision im Bereich Interieur-, Textil- und Modedesign übernimmt. Darüber hinaus ist sie Gastdozentin an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihr bislang größter Coup: Im Musikvideo „Cranes in the Sky“ trägt Solange Knowles ein von ihr entworfenes Oberteil.


NG (lacht) Es war schon sehr cool. Als ich die E-Mail mit dem Betreff „Solange x Nadine Göpfert“ sah, konnte ich erst nicht glauben, dass sie echt ist. Tatsächlich wollte Solange den Sweater erst auf der Met-Gala tragen. Ich fand die Idee natürlich großartig, war aber ehrlich und sagte der Stylistin, dass Solange damit nicht glücklich würde. Der Sweater ist viel zu schwer und warm. Sie dankte mir für meine Ehrlichkeit und sagte mir, dass wir ja in der Zukunft mal kooperieren könnten. Da dachte ich schon, dass ich diese großartige Chance verpasst hätte. Einige Monate später schrieb sie tatsächlich wieder und fragte, ob sie den Sweater für einen Shoot ausleihen könnte. Spezifischer wurde es nicht. Einige Wochen später, ich glaube es war an einem Wochenende, weckte mich mein Freund und sagte: „Wach auf, wach auf, ich habe gerade dieses Video gesehen. Schau mal!“ Ich war natürlich den ganzen Tag total euphorisiert.

So viele Emotionen wegen eines Sweaters.

LG Es ist genau so, wie wir es am Anfang beschrieben haben. Manchmal generiert eine Oberfläche so einen krassen sinnlichen Output, angetrieben von der Art, wie sie entstanden ist.

NG Absolut. Ich habe nur immer die Befürchtung, dass die Menschen ausschließlich die Oberfläche sehen und nicht das Konzept dahinter. Ich möchte dann immer den Kontext und die Geschichte dahinter erklären. Aber wenn Solange einen Sweater im Video trägt, fragt natürlich niemand: Warte mal, was war genau das Konzept dieses Sweaters?

Vielleicht nicht auf diese intellektuelle Art und Weise, aber sowohl die Stylistin als auch Solange, haben etwas gefühlt, als sie diese Oberfläche betrachtet haben. Natürlich erfühlen sie nicht Dein Konzept, aber sie fühlen mehr, oder anderes, als bei einem durchschnittlichen Sweater.

NG Das stimmt. Man sieht dem Sweater sein Konzept eben auch an. Ich denke gute gestalterische Arbeiten brauchen gute Konzepte. Man sieht Arbeiten an, wenn sie keine Ebenen haben.

Zurück zu Dir Lucas. Ich habe eine praktische Frage an Dich. Wie kreierst du die Visualisierungen und Oberflächen für Deine audiovisuellen Auftritte? Sind sie generiert, morphst Du Bilder, oder gibt es eine verrückte künstliche Intelligenz dahinter?

LG Das könnte man denken, aber im Grunde baue ich eine Struktur, die mir hilft, Video und Audio in Echtzeit zu kombinieren. Als Erstes entwickle ich visuelle Elemente. Dazu experimentiere ich mit Farben, Strukturen, in 2-D und 3-D und so weiter. Es kommt immer darauf an, welche Werkzeuge und Programme ich dafür nutze. Danach komponiere ich die Musik dafür. Auf der Bühne navigiere ich diese Elemente dann nur noch. Man könnte es auch als Echtzeitexperiment bezeichnen. Es ist, als würde ich live vor Menschen kochen.

LUCAS GUTIERREZ studierte in seinem Heimatland Argentinien Industriedesign an der Nationalen Universität Córdoba. Über die Jahre entwickelte er sich zum visuellen Künstler. Er arbeitet sowohl physisch-skulptural als auch digital. Geprägt durch seinen Designhintergrund findet er besonderen Gefallen daran, Prozesse zu unterbrechen und Abläufe zu stören. Gutierrez ist darüber hinaus als Videokünstler und Visual Jockey (VJ) tätig, seine Live-Auftritte beschreibt er als eine Live-Research-Erfahrung, vergleichbar mit „dem Kochen vor Publikum”. Für das Projekt The New Infinity der Berliner Festspiele entwickelte er beispielsweise eine Projektion, die in einer mobilen Kuppel auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg gezeigt wurde. Gutierrez war Gastdozent an der Weißensee Kunsthochschule Berlin und an der Universität der Künste Berlin.


NG Kann ich auch eine Frage stellen?

Na klar.

NG Welche Themen beeinflussen Deine Arbeit?

LG In meinen Performances versuche ich durch Technologie eine Verbindung von Video und Audio zu erschaffen. Wenn es um meine Skulpturen geht, interessieren mich Themen wie Dystopien und Ängste, die in den letzten Jahren aufkamen. Ich mag die Idee, zu verstören und dadurch den Wert eines Objektes zu erhöhen. Ich mag es, wie Gegenstände Emotionen und Fantasien anregen können.

NG Da muss ich daran denken, als ich das erste Mal das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch in Moskau gesehen habe. Die Farbe hat inzwischen Risse und ich dachte sofort: Da ist noch etwas drunter!

Das ist die perfekte Metapher für das gesamte Thema Oberflächen.