Jörg Stürzebecher bei der Eröffnung der Ausstellung „Konkrete Poesie/poesia concreta – Eugen Gomringer, Augusto de Campos und Freunde“ in den Rüsselsheimer Opelvillen, 25. September 2019, Foto: Simon Malz
ZUM TOD VON JÖRG STÜRZEBECHER
Text: Stephan Ott
In form 271 erschien Jörg Stürzebechers Text Ayn Rand – American Idol. Als er den Text, wie immer persönlich, auf einem einer Pressemappe entstammenden USB-Stick in der Redaktion abgegeben hatte (eine eigene E-Mail-Adresse und ein Internetanschluss besaßen in seinem Kosmos ebenso wenig Relevanz wie ein Mobiltelefon), war er sehr erleichtert. Da war nichts zu spüren von der sonst seine Auslieferungen begleitenden, klammheimlichen bis triumphalen Freude, einen weiteren Überraschungscoup gelandet zu haben. Seine Ausführungen und Ansichten über die russische Exilautorin und ihren Roman The Fountainhead (noch) publizieren zu können, waren ihm in diesem Fall ein dringlicheres Anliegen. Der Grund lag darin, dass Jörg Stürzebecher die Zeiten davonliefen: die seines Körpers, den er nicht schonte, die der Medien und Hochschulen, in denen seine Themen zunehmend von Ahnungslosigkeit bedroht waren, die seines Produktarchivs und seiner Bibliothek, deren einzigartigen ideellen, materiellen und praktischen Wert nur er kannte und deren Hauptstandort in der Koblenzer Straße im Frankfurter Gallusviertel der Abriss drohte, sowie schließlich die Zeit seiner Wohnung in Frankfurt Bockenheim (das Viertel, dessen Luft er ganz offensichtlich zum Atmen brauchte), um deren Verbleib er zuletzt juristisch vorzugehen genötigt war.
Ayn Rand – American Idol erschien also vor der Zeit, und der Text gehörte damals, im Frühjahr 2017, nach meinem Dafürhalten nicht zu Stürzebechers besten – noch nicht zu Stürzebechers besten, sollte ich besser schreiben. Jörg Stürzebechers Werk (Ausstellungen, Texte, Unterrichte, Vorträge) zeichnet nämlich die seltene Fähigkeit aus, reifen zu können, dank einer Ausdrucksstärke und Vermittlungsfähigkeit sowie einem Wissen, die ihresgleichen suchen. Ein Stürzebecherscher Text – die Ayn Rand-Abhandlung steht dafür exemplarisch – vertrug redaktionelle Eingriffe, verlangte geradezu danach. Nicht auf den Magistralen, die waren verlässlich ohne Schlaglöcher argumentiert. In den Seitenstraßen jedoch tummelten sich oft Wandelnde (Namen von ihm wichtigen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern, persönliche Ereignisse und durchaus auch exklusive Rückschlüsse zum vergangenen und aktuellen Weltgeschehen), die dort nicht unbedingt etwas zu suchen hatten und deshalb zunächst einmal dingfest gemacht werden mussten; die zumindest der Rückfrage bedurften, denn für unbedarfte Erstlesende (und nichts anderes sind Redigierende) hatten sie, ja konnten sie dort gar nichts verloren haben – auch wenn sie dann am Ende doch verweilen (oder weiterschlendern) durften. Ein Autor-Redakteurs-Pingpong, das uns großes Vergnügen bereitete.
Ein Beispiel: Über die beiden Antagonisten in The Fountainhead schreibt Jörg Stürzebecher: „Letztlich aber scheitert der Anpasser Keating und Roark setzt sich durch, der Einzelne und Einzige siegt über den, der die populären Wünsche zu befriedigen verspricht. Wer will, kann dies als Metapher verstehen.“ Der zweite Satz ist so ein Wandelnder, der weiterschlenderte und spätestens jetzt, im August 2020, sehr wohl etwas verloren hat in diesem Text.
Ich lernte Jörg Stürzebecher 1987 kennen, ob an der Frankfurter Universität, an der wir beide Germanistik studierten, oder beim Rat für Formgebung, weiß ich nicht mehr. Es war jedenfalls die Zeit, in der Michael Erlhoff den Rat leitete und vielen jungen Menschen eine Chance bot, was nicht jeder sogleich begriff. Jörg Stürzebecher indes schon, und so erschienen im Design Report seine Texte, in denen er seine Themen aus Architektur, Design, Kunst, Literatur und nicht zuletzt die aus seiner alltäglichen Erfahrung gespeisten virtuos zu verknüpfen vermochte. Wenn einer transdisziplinär arbeiten wollte und konnte, dann war er es. „Extrem schlau und immer gehetzt“, erinnert sich eine spätere Kollegin an Jörg – prägnanter lässt sich das nicht formulieren.
„Max ist endlich auf dem richtigen Weg“, 1993, Foto: „Frankfurter Fundbüro“
Was folgte, war die Blütezeit seines Schaffens. Das digitale Zeitalter brach gerade erst in den Alltag ein, noch galten analog erworbenes Wissen und googlefreie Recherchefähigkeit als unangefochtene Voraussetzung für seriöses Arbeiten. Jörg Stürzebecher veröffentlichte bis heute gültige Standards zu Max Burchartz (1993), Richard Paul Lohse (1999) und Anton Stankowski (2006), um nur die zu nennen, die er selbst in seinem Autoren-CV genannt haben wollte. Seine neunteilige Designgeschichte für den Design Report (1994/1995) sowie seine in einem Spiegel Special (1995) veröffentlichte synoptische Chronik der Formgebung von 1900 bis 1995 seien immer noch allen Studierenden und Interessierten zur Lektüre empfohlen. Jörg Stürzebecher hielt Vorträge, konzipierte Ausstellungen (das Wort „kuratieren“ war ihm schon wegen seines inflationären Gebrauchs ein Graus), unterrichtete an zahlreichen deutschen Hochschulen – unvergessen ist unter anderem sein selbstverständlich eigenhändig zusammengesammeltes Einwegbecher-Konvolut, anhand dessen er den Studierenden sämtliche Aspekte des Designs zu vermitteln vermochte: Ästhetik, Ergonomie, Ethik, Farbe, Fertigungstechnologie, Form, Marke, Material, Typografie …
Die Kaffeebechersammlung von Jörg Stürzebecher. In der am 22. September erscheinenden form 289 erscheint das letzte Mal seine Kolumne „Gebrauchsgerät, das nicht veraltet“ zu genau diesem Objekt. Foto: Manolis Baier
Günter Kupetz – Industrial Design, 2006, Foto: „Frankfurter Fundbüro“
Seit Beginn der 2000er Jahre arbeiteten wir sporadisch zusammen, erzählten unter anderem im Katalog zur Ausstellung über den Türdrücker- und Türklinkenhersteller FSB im Deutschen Architektur Museum (2002) die Geschichte einer Drückerkolonne unter Einsatz des Dudens mit den Protagonisten Ferdinand, Johannes, Max, Ludwig, Walter sowie dem Kolonnenführer Dr. Sokrates. Schon das war ein großes Vergnügen. Als ich 2006 im Rahmen der Rat für Formgebung-Ausstellung „design deutschland“ eine inhaltliche Entscheidung gegen Jörg Stürzebecher mittrug, war das für ihn ein massiver Vertrauensbruch. Auch hier weist ein Wandelnder aus Amercian Idol die Richtung: „Dennoch ist ihre [Ayn Rands, Anm.] Forderung nach Konsequenz gerade für Gestalter wichtiger Anspruch, weiß man doch, wie Auftraggeber gerne in Entwürfe reinreden.“ Dieses Zerwürfnis hatte auch Folgen für die parallel entstehende Publikation Günter Kupetz – Industrial Design (2006), die er maßgeblich mitkonzipiert und mitpubliziert hatte, in der er aber ob der Ereignisse weder genannt noch „bedankt“ sein wollte. Da hatte der Spaß dann ein Ende. Stolz, Strenge, Sturheit – Stürzebecher konnte auch hier von rigoroser Konsequenz sein. In unserem Fall dauerte es bis 2013, bis er überhaupt wieder ein Wort mit mir wechselte.
Trotz weglaufender Zeiten blieb er bis zuletzt ein wacher bis bissiger Analyst der Gegenwart. Die der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg nacheifernden Fridays for Future-Demonstrierenden nannte er „Grétins“, nicht unbedingt ihres Anliegens wegen – ich kenne keinen Menschen mit einer besseren CO2-Bilanz –, sondern weil ihm deren „Wissens- und Gefühlsduselei“ zuwider waren, und weil er der unumstößlichen Ansicht war, dass sich Probleme sowieso nicht wirklich lösen lassen. In dieser Hinsicht ließ er nicht mit sich reden.
Nach meinem Ausscheiden aus der form Redaktion telefonierten wir wöchentlich, bedauerten das anhaltende Formtief des Bahnhofsbuchhandels, wunderten uns über die Undinge von Namen, Ereignissen und Rückschlüssen, verstiegen uns bis hinauf in die Hohen Sarkasmen – wohlwissend, dass die Luft dort oben ebenso dünn ist, wie auf den Gipfeln der Ahnungslosigkeit. Aus dieser Ambivalenz heraus (1) schrieb Jörg Stürzebecher bis zuletzt weiter für form und hat sich dazu jedweden Kommentar verbeten. Aus dieser Ambivalenz heraus (2) wurde diese Würdigung eigens für form geschrieben.
Bleibt zum Schluss noch der seltsam anmutende Titel dieses Nachrufs zu klären. Als ein Projektleiter des Rat für Formgebung einmal das Büro betrat, in dem Jörg und ich gerade an der Publikation zum 50-jährigen Bestehen des Rat arbeiteten, und sich, halb im Spaß (der aber oft ein Ernst werden kann), darüber mokierte, dass er von Jörg nicht gegrüßt werde, schnodderte dieser ihm, ebenfalls nur halb im Spaß, jenes „Wer reinkommt, grüßt!“ entgegen. Mit einem unhöflichen Blaff Höflichkeitsregeln gegen Hierarchiebegehren ins Feld zu führen, das war so recht nach Jörg Stürzebechers anarchischem Geschmack. An diesem, da bin ich mir sicher, werden wir ihn dereinst auch wiedererkennen – wann immer, wo immer das auch sein mag.
Adiós, compañero. Auf Wiederlesen!